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Leserbeitrag: "KEINE ZEIT"
Der Leser Günther Dressler hat das Gedicht "Zu tun! Zu tun!" von Kurt Tucholsky, 1924 geschrieben, ins Jahr 2012 verpflanzt und nennt seine Umdichtung "Keine Zeit!" ...


KEINE ZEIT!
(nach Kurt Tucholsky: ZU TUN! ZU TUN!, 1924)

Heute lese ich da in der Zeitung:
In Wales gibt’s ’nen Klippenspringerverein.
Nun fürchtet auf Rügen die Inselleitung,
dass auch dort irgendwann … dabei fällt mir ein:
Ich muss ganz dringend an Edith schreiben
(in Binz): Deinen Fünfzigsten hattest du!
Herrje! Ich lasse so vieles treiben.
Aber … ich komm nicht dazu.

Der Arzt sagt, ich soll unter Aufsicht joggen,
da gibt es so eine Gruppe am Ort;
nicht abends bloß chatten und twittern und bloggen.
Wann ordne ich endlich mein Bücherbord!
Bin Sonntag ich aufs Rad gestiegen,
wie mir’s der Doktor anempfahl?
Müsst Ordnung in den Keller kriegen!
Ich nehm mir’s vor … ein andermal.

Wie oft wollt ich zur Jonglerie?
Beim besten Willen, ich schaffe es nie.

Wenn dann in seinem nächsten Leben
blickt der Berliner ernst retour,
spricht Gott: „Den Rat will ich dir geben:
Dein Tun zählt, nicht dein Wollen nur.
Sonst wirst du um Versäumtes trauern:
‚Ach, hätt’ ich doch, ach, wär’ ich bloß!’
Willst du dereinst im Lehnstuhl kauern –
ein tatenscheuer Gernegroß?“

Und der Berliner sagt beklommen:
„Ich … hab mir so viel vorgenommen.“

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... und hier das Original:

ZU TUN! ZU TUN!

Heute lese ich da in der Zeitung:
In Los Angeles gibt’s einen Schnapsverein,
und man befürchtet seine Verbreitung
in dem übrigen Land – dabei fällt mir ein:
Ich sollte mal wieder an Edith schreiben
(in Kalifornien) – seit Januar
liegt der Brief da, und ich laß es bleiben
und verschieb es nun schon ein halbes Jahr.
Das ist nicht richtig. Es nimmt mir die Ruh.
Aber … ich komme nicht dazu.

Der Arzt sagt, ich soll mir Bewegung machen.
Da gibt es so eine Schule für Sport …
Auf dem Boden liegen noch alte Sachen,
die sollten doch längst für die Armen fort!
Bin ich an Vaterns Grab gewesen?
Ich nehm es mir vor – und dabei wird’s nie.
Das Gelbbuch wollte ich immer mal lesen,
das und Simmels Soziologie.
Wie oft wollt ich schon nach Friedrichsruh!
Aber … ich komme nicht dazu.

Einstmals, wenn die Posaunen schallen,
steigt auf der Berliner aus seinem Grab.
Und er steht in der ersten Reihe vor allen –
(„Weil ich doch meine Beziehungen hab!“)
Gott, der Herr, mild und voll Frieden,
der über allen Gewässern schwebt,
spricht: „Berliner! Was tatst du hinieden?
Menschenskind! Wie hast du gelebt?“

Und der Berliner sagt darauf verschwommen:
„Ich … bin leider nicht dazu gekommen.“

Kurt Tucholsky, 1924 (aus „Ausgewählte Werke“, Melzer Verlag)
 
Eintrag vom: 11.07.2012  




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